Nur noch kurz die Welt retten
Ein Kind weint vor meinem Bürofenster. Herzzerreissend. Nach einigen Momenten stehe ich auf und schaue, was passiert ist. Am nassen und frostig-kalten Boden, unter einem kleinen rosaroten Fahrrad, liegt ein kleines Mädchen. Mit Röckchen, weissen Strumpfhosen, Jacke, Mütze − und ohne Handschuhe. Es weint eindringlich, die Hände leicht vom Boden abgehoben. Weil nass und kalt. Nach einer gefühlten Minute erscheint die Mutter, mit Kinderwagen. Anders als erwartet, dreht die Mutter zuerst mit dem Kinderwagen in aller Ruhe eine Pirouette und parkiert. Dann nimmt sie das Fahrrad vom Kind weg, legt es auf den Kinderwagen und sagt: «Komm, wir müssen zum Einkaufen». Und geht. Das Mädchen steht erst jetzt auf, die Strumpfhosen haben an den Knien zwei grosse, nasse, dunkle Flecken. Was es jetzt brauchen würde, wäre nur eine Minute Zuwendung. Eine Minute in die Arme geschlossen, tröstende Worte ins Ohr gehaucht, hören und spüren, dass alles gut ist. Anteilnahme am Unglück und Pech, das gerade ist. Das Mädchen geht ein paar Schritte und bleibt vor einem anderen Fenster laut protestierend und schreiend stehen. So lange, bis die Mutter zurückkehrt, diesmal schimpfend. Es dauert eine ganze Weile, bis die mütterliche Stimme einen etwas sanfteren Ton annimmt. Erst dann lässt sich das Kind zum Weitergehen bewegen.
Szenenwechsel
Tim Bendzko singt in seinem Song «Nur noch kurz die Welt retten»: «Ich wär so gern dabei gewesen, doch ich hab viel zu viel zu tun. Lass uns später weiter reden. Da draussen brauchen sie mich jetzt. Die Situation wird unterschätzt. Und vielleicht hängt unser Leben davon ab. Ich weiss, es ist dir ernst, du kannst mich hier grad nicht entbehren. Nur keine Angst, ich bleib nicht all zu lange fern. Muss nur noch kurz die Welt retten, danach flieg ich zu dir.»
«Muss nur noch kurz... und dann...». Und dann könnte eine Gelegenheit verpasst sein. Und dann könnte es zu spät sein. Was haben die beiden Geschichten mit mir und mit dir zu tun? Erkennst du dich auch, in der einen oder anderen Situation? Wie oft war ich in meinem Leben nicht präsent! Habe auf später vertröstet. Auch dann, wenn es drauf angekommen wäre. Eigentlich ist es so einfach: Ein Hauch mehr Gefühl für das, was um mich herum gerade abläuft. Nur ein wenig mehr Aufmerksamkeit, Empathie. Für meine Mitarbeitenden, meine Freunde, meine Nachbarn, für die Menschen, die mir unterwegs im Leben begegnen. Und erst recht für meine Kinder und für meine Frau. Im entscheidenden Moment. Dann, wenn mein Herz sagt: Geh und tu es. Nimm die Person in deine Arme. Sag ihr etwas Ermutigendes. Spende Trost. Schenke Liebe. Sei einfach still, aber präsent. Weine mit, leide mit, lache mit − sei da. Ich weiss: Diese kleine Welt sieht sofort anders aus. Und betrifft es unsere Kinder, dann gehen diese befreiter durch ihr Leben, als es uns gegönnt ist.
Ich weiss nicht, was im Inneren der Kleinen ablief. Aber ich stellte mir vor, dass genau in solchen Momenten Traumas zu wachsen beginnen. Was nützt es, wenn ich in der Firma, im Beruf, beim Sport oder sonst irgend wo Höchstleistungen an den Tag lege oder alle Rekorde breche? Nur um geliebt zu werden? Oder mir und den anderen zu beweisen, dass ich genüge, dass ich auch gut bin? Aber rund um mich Menschen auf der Strecke bleiben?
Ein Gedanke zur Mutter: Ich verurteile sie in keiner Weise. Wer weiss, wo sie gerade steht, wie es ihr geht? Hat sie selber je Trost und Zuwendung erhalten? Jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, nehme ich mich selber an der Nase: Warum habe ich nicht doch die Türe geöffnet und gefragt, ob ich irgend wie helfen, unterstützen kann? Warum habe ich gedacht, das wäre peinlich für die Mutter? Wer weiss, was daraus entstanden wäre? Vielleicht eine verpasste Chance. Wer weiss. Aber eines ist sicher: Die nächste Gelegenheit kommt bestimmt...!
Was darf sich ändern?
- Mehr präsente Aufmerksamkeit und Achtsamkeit für die Menschen, die sich täglich rund um mich bewegen
- Herzimpulse oder das Bauchgefühl wahrnehmen, die mich zum Handeln auffordern
- Diesen Impulsen folgen und TUN. Immer wieder. Und dich überraschen lassen, wie sich dein Leben beglückend verändert...